Transkript UnderDocs 016 – Die Wahrheit über Kant

2019, AK Uni im Kontext
UnderDocs 016 – Die Wahrheit über Kant

Transcript

Hauke:
[0:00] Es ist niemals mein Anspruch gewesen, jetzt die Wahrheit abzuschaffen. Und es ist auch niemals mein Anspruch gewesen, zu sagen: Ich habe die Wahrheit jetzt nämlich gefunden über die Postulatenlehre, die alle anderen Philosophen nicht erkannt haben, weil sie eben nur Vaihinger gelesen haben.
Ich habe Vaihinger auch gelesen. Ich unterliege genau demselben Wahrheitsdiskurs, wie alle anderen Philosophen und Historiker, Historikerinnen und Philosophinnen auch.
Aber ich frage mich: Kann man eben mit diesem Wahrheitsanspruch, dass man die Wahrheit sagen muss irgendwie über Kant, kann man da andere Fragen stellen?
Kann man da versuchen, Kant anders zu historisieren, als es bisher geschehen ist?

Intro

Paula:
[0:59] Hallo, liebe Zuhörerinnen und Zuhörer. Herzlich willkommen zur

Begrüßung

[1:02] 16. Folge Underdocs. Ich bin Paula Mörstedt und heute hört ihr mich das erste Mal hier am Mikro.
Ich vertrete nämlich den Fabian, der ist gerade total im Lernstress für sein Staatsexamen.
Deswegen werde ich ab und an immer mal hier auftauchen. Ich bin jetzt bei den Underdocs seit ein paar Monaten dabei und heute geht es aber nicht um mich, sondern wir haben wieder einen spannenden Gast da. Und
ich glaube, das Thema, was wir heute besprechen, wird bei einigen von euch Erinnerungen wecken,
vielleicht an die alte Schulzeit.
Ich sag nur: Ethikunterricht, Philosophieunterricht … von den Lehrern geliebt, von den Schülern gehasst.
Ich sag: Erkenntnis, Vernunft, Moral. Wer ist das? Immanuel Kant.
Mal schauen was wir heute damit machen, denn wir haben hier den Hauke Heidenreich.
Der hat in Halle Geschichte und Medien- und Kommunikationswissenschaften studiert, promoviert jetzt auch hier,
allerdings ist sein Thema mit Kant in der theologischen Fakultät angesiedelt.
Warum? Das werden wir rausfinden. Aber erstmal … Hallo, Hauke. Schön, dass du da bist.

Hauke:
[2:03] Hallo, Paula. Grüß dich. Ich danke für die Einladung.

Paula:
[2:07] Sehr gerne. Wir freuen uns, dass Du uns heute ein bisschen in Kants Welt entführst.
Deswegen auch gleich mal zu Anfang … Ich glaube, jeder hat von Kant schon einiges gehört, hat irgendwie so ein paar Schlagworte im Kopf, oder wenn er mal schlau klingen will, sagt er „Kritik der reinen Vernunft“.
Aber so richtig wirklich den Überblick: Was ist Kant? Wer ist Kant? Was hat er gemacht?

Hauke:
[2:29] Na, wenn ich schlau klingen möchte, dann sage ich auch immer Kritik der reinen Vernunft, das funktioniert immer gut.
Kant war vorher Philosophieprofessor in Königsberg, dem heutigen Kaliningrad dort an der Uni,

Wer war Kant?

[2:40] und hat verschiedene Bücher geschrieben zu den Themen, die du gerade auch schon erwähnt hattest, also vor allem zu Erkenntnis, Vernunft, Moral, alles, was damit zusammenhängt in gewisser Weise.
Die Kritik der reinen Vernunft wird meistens so als sein Hauptwerk auch dargestellt.
Er hat dann noch die Kritik der praktischen Vernunft und die Kritik der Urteilskraft geschrieben, was man dann meist als die drei Kritiken bezeichnet.
Und er hat noch viele andere Texte verfasst, vor allem zu moralischen Themen und zur Religionsfrage.
Er hat Vorlesungen gehalten vor seinen Studierenden und das ziemlich genau 40 Jahre lang und war auch in der damaligen Zeit ein relativ prägender bekannter Philosoph und Denker.

Paula:
[3:22] Und was genau hat er da fabriziert? Also was sind so die Grundpfeiler seiner Theorien?

Hauke:
[3:29] Kant hat sich vor allem in der Kritik der reinen Vernunft die Frage gestellt, „Warum und wie können wir erkennen?“ und vor allem „Was können wir erkennen?“.
Und er hat versucht, das zu beschreiben, wie unsere Erkenntnis funktioniert, was wir selber mitbringen, was außer uns liegt und wie das dann zusammenkommt, wie wir wahrnehmen, wie wir bestimmte Sachen wahrnehmen.
Die Erkenntnis-Frage, das war sein Steckenpferd. Genau. Ich denke schon.

Paula:
[3:56] Und auf dem Weg, um diese Frage zu lösen, ist er dann über alle anderen Erkenntnisse, die er irgendwie formuliert hat, gestoßen.

Hauke:
[4:04] Ja, in gewisser Weise. Kant hat sich drei, beziehungsweise vier Fragen gestellt: Was kann ich wissen? Was soll ich tun? Und was darf ich hoffen?
Und dann noch die vierte Frage: Was ist der Mensch? Und in gewisser Weise ist das sein Fahrplan, sein kritischer Fahrplan gewesen.
Diese drei Fragen zu problematisieren, in den Kontext der zeitgenössischen Philosophie einzuordnen, in den Frage-Kontext in Frage-Katalog damals einzuordnen und dann natürlich auch irgendwo eine Antwort zu finden.
Auch wenn Kant selber wusste, dass es schwierig ist, auf diese Fragen eine Antwort zu geben,
war ich kann trotzdem sicher, dass diese Fragen in irgendeiner Form gestellt werden müssen.
Und das hat ihn dann dazu bewogen, auch diese drei Kritiken zu schreiben, um zu versuchen, diese drei Fragen systematisch zu beantworten.

Paula:
[4:46] Und was ist das Besondere daran? Warum ist es genau Kant, mit genau den Kritiken, dass wir heute immer noch darüber so sprechen oder warum beschäftigst du dich mit ihm so intensiv?

Hauke:
[4:57] Das ist die schwerste Frage gleich zu Anfang so ein bisschen. Warum Kant? Das ist die Frage, die ich mir auch gestellt habe, als ich mit meiner Arbeit zu Ende war.
Ich selber beschäftige mich mit Kant aus einem ganz bestimmten Interesse, weil mich die Frage interessiert hat, warum Kant heute so gelesen, auf eine bestimmte Art und Weise gelesen wird.
Warum zum Beispiel bringen wir, wie du das vorhin gesagt, Kant immer mit Vernunft in Verbindung? Warum ist das gleich so?
Die Frage habe ich mir gestellt und habe dann geguckt, wo Kant besonders viel gelesen wurde und das war um 1900. Und habe gesehen, dass Kant einen gewaltigen Einfluss hatte oder viel gelesen wurde in der Zeit auf ganz verschiedenen Ebenen.
Den haben nicht nur Philosophen, Philosophinnen gelesen, sondern auch Leute, die in der Politik waren oder Naturwissenschaftler.
Also, wie gesagt, die ganz verschiedenen Leute. Und Kant hat in all diesen Diskursen eine Rolle gespielt und für mich war die selbe Frage: Warum eigentlich Kant?
Und ich denke, weil er sich zu vielen verschiedenen Themen geäußert hat und diese Themen offensichtlich immer wieder eine Rolle spielen.
Was können wir wissen? Was sollen wir tun? Und worauf können wir hoffen?

Paula:
[6:03] Und haben die von Anfang an auch eine Rolle gespielt? Also war Kant zu seinen Lebzeiten schon ein Mythos? Oder ist Kant erst zum Mythos geworden?

Hauke:
[6:12] Ich glaube, er ist schnell zum Mythos gemacht worden in gewisser Weise vielleicht, weil sich bestimmte Narrative gebildet haben, wie man diesen Kant zu sehen hat.
Zu Lebzeiten von Kant gab es schon eine Anhängerschaft von ihm, die sich gefunden hat. Und als Kant dann 1804 gestorben ist,

hat sich so ein Freundeskreis zusammengefunden, die sich einmal im Jahr getroffen haben und an sein Werk und an seine Person erinnert haben.
Und, ich glaube, diese schnell einsetzende Mythologisierung von Kant als Person und herausragender Philosoph, so nach dem Motto, hat einfach sehr schnell eingesetzt und hat sehr schnell auch institutionell eingesetzt,
eben durch dieses Freundemal, durch dieses Bodenmal nannte man das, was es heute noch gibt.

Paula:
[6:51] Er wurde quasi während er gelebt und gewirkt hat, schon ganz gut gefeiert und hinterher gerade noch weiter.

Hauke:
[6:59] Auf jeden Fall. Seine Bücher wurden auch gelesen und auch rezensiert und weiterentwickelt und bekannt gemacht und auch auf eine bestimmte Art und Weise rezensiert.
Wenn man sich die Kritik der reinen Vernunft anguckt, das ist ein Klopper mit 800, 900 Seiten.
Und natürlich haben sich bestimmte Philosophen für bestimmte Themen dieser Kritik besonders interessiert. Für manche war wichtig, die Erkenntniskritik, also das, was wir erkennen können.
Für viele Philosophen war aber auch wichtig, was kommt eigentlich hinter dem, was wir erkennen können, oder was ist eigentlich das, was wir nicht erkennen können.
Und dadurch bildeten sich bestimmte Erzählschulen, bestimmte Erzählarten heraus, die dann diesen Kant auch immer damit in Verbindung gebracht haben, was man eigentlich selber gedacht hat.

Paula:
[7:39] Ja, das ist ja auch das, was du uns im Vorgespräch schon gesagt hast, dass man Geschichtsforschung immer ein bisschen kritisch angucken muss, weil man irgendwie immer nach dem Sinn sucht, warum man was herausfinden möchte, aber eigentlich
an sich nur das herausfinden muss und den Sinn vielleicht gar nicht braucht. Oder kannst du das vielleicht noch einmal ganz kurz erklären, was du damit meinst?

Hauke:
[7:59] Mit der Sinnsuche? Primär bin ich als Historiker nicht so sehr an der Frage interessiert: Was ist der Sinn? Sondern ich bin eher an der Frage interessiert: Wie haben verschiedene Leute in der Vergangenheit eigentlich Sinn gesucht und vor allem wo?
Und ich habe herausgefunden, dass die Sinnfrage um 1900 und, ich glaube, auch heute noch eine sehr zentrale Frage ist, klar. Das ist jetzt nichts besonderes Neues, aber mich interessiert dann die Frage: Wer wird denn eigentlich heranzitiert um diese Sinnfrage vielleicht lösen oder problematisieren zu können? Und irgendwie ist das halt immer Kant.
Der kommt halt ständig und ich denke es ist, glaube ich, schwierig für Leute heute nachzuvollziehen,
zumindest ging mir das so, dass dieser Philosoph, der wirklich auf den ersten Blick eine seltsame Ausdrucksweise hat, so einen zentralen Einfluss gehabt hat, so zentral rezipiert worden ist in allen möglichen Feldern.
Und ich habe mir einfach dann die Frage gestellt: Warum ist das so?
Wie bringen die Leute ihre Sinnfrage mit Kant in Verbindung? Und dann war es für mich gar nicht so wichtig, zu sagen, was kann ich selber daraus für einen Sinn gewinnen.
Das ist vielleicht die Frage für den nächsten philosophischen Schritt, den ich mir nach der Dissertation nicht zutraue.

Paula:
[9:10] Also du hast danach gesucht, wieso andere Leute nach Sinn suchen und hast Kant gefunden und bist da hängen geblieben.

Hauke:
[9:17] Ich habe vor allem so verschiedene Kants gefunden in gewisser Art und Weise. Weil ich vorhin schon gesagt hatte, dass sich verschiedene Erzählstrategien herausgebildet haben als Kant noch am Leben war, aber auch vor allem als er dann tot war,
und bin immer wieder überrascht gewesen, in wie vielfältige Art und Weise dieser Kant gelesen wird und in welchen Sachen der auftaucht, wo ich nie gedacht hätte, dass man irgendwie Kant zitiert.
Ich hatte eine Rede von einem Bürgermeister mal irgendwann in der Hand gehabt, ich weiß gar nicht von welcher Stadt der war, wahrscheinlich von dem damaligen Königsberg, auf einer Stadtratssitzung. Und das Erste war Kant, was da kam. Es ist sehr auffällig, dass dieser Philosoph so wichtig ist.

Paula:
[9:57] Aber kannst du das vielleicht ganz kurz mal für uns, die jetzt überhaupt nicht wissen, wie Kant verschieden gelesen wurde, kurz darstellen, was die verschiedenen Teile sind, wie man Kant interpretieren kann oder was man denkt, was er meint.

Wie Wurde Kant Gelesen?

Hauke:
[10:10] Also es gab zum Beispiel eine Erzählstrategie, die vor allem Anfang des 19.
Jahrhunderts relativ en vogue war oder auch um 1800 relativ en vogue war, dass man Kant dafür in Anschlag gebracht hat, dass der sich für die Verteidigung des religiösen Glaubens stark gemacht hat. Warum?
Das Argument war: Kant hat die Erkenntnis begrenzt und dafür Platz für das geschaffen, was sozusagen jenseits der Erkenntnis ist für Gott vor allem, aber auch für die Unsterblichkeit der Seele und andere Sachen.
Das sind Sachen, die zum Beispiel in gewisser Weise Kant selber auch nahegelegt hat, wenn er die zweite Auflage seiner ersten Kritik, also die Kritik der reinen Vernunft beginnt, oder im Vorwort erwähnt, dass er das Wissen aufheben musste, um zum Glauben Platz zu bekommen.
Dann gibt es eine Sicht die in gewisser Weise heute noch sehr prägend ist, die sich auch im 19.
Jahrhundert nicht durchgesetzt hat, aber die dort entstanden ist:
Kant hat die Religion abgeschafft. Das ist das gängige Narrativ heute noch. Die Aufklärung, die in Kant sich besonders profiliert hat.
Er hat die Religion komplett abgeschafft und durch die Vernunft ersetzt oder durch das Denken ersetzen, wodurch auch immer.

[11:18] Es gab spiritistische Autoren, die sich mit Kant beschäftigt haben. Das war im 19.
Jahrhundert auch ziemlich en vogue. Spiritisten waren Leute, die Geister beschworen haben, die sich mit irgendwelchen hellseherischen oder telepathischen Fähigkeiten beschäftigt haben, teilweise auch in Ihrem Sinne
im wissenschaftlichen Diskurs. Und da wurde Kant auch in Beschlag genommen, da wurde gesagt: Kant selber hat in seinen Kritiken eigentlich die Grundlage unseres Spiritismus gelegt.
Das sind drei Strategien, die relativ wichtig waren in der Zeit.

Paula:
[11:49] Auf der einen Seite gab es also die Leute, die gesagt haben, Kant schafft Wissen ein bisschen zur Seite, damit wir glauben können.
Dann gab es die Leute, die gesagt haben: Hey, ne, genau andersherum. Kant schafft den Glauben ab.
Und dann gab es die Spiritisten, die fanden eigentlich, alles, was Kant meint, ist ja Okkultismus, Aberglaube und sowas. Kann man das auch zu Spiritismus einordnen? Gehört das dazu?

Hauke:
[12:14] Die Spiritisten sind natürlich nicht selber davon ausgegangen, dass das Aberglaube ist, was sie machen. Das ist alles ganz toll und wissenschaftlich.
Aber, ja, das sind genau die Strategien, wie das gemacht wurde.
Das sind jetzt auch wirklich holzschnittartige Sachen. Auch da gibt es Abstufungen. Es ist immer die Frage, welchen Glauben Kant abschafft.
Es gibt ja nicht nur einen Glauben, es gibt genauso wenig wie es ein Christentum gibt, gibt es nur einen Glauben. Die Frage ist, was Kant man da genau abgeschafft haben soll.
Welche Art von Glauben? Zum Beispiel den Aberglauben. Es gibt Autoren um 1900, die sagen, Kant hat den wahren Glauben vom Aberglauben getrennt.

Paula:
[12:51] Der wahre Glaube ist dann was? Welche Religion?

Hauke:
[12:54] Bei den Texten, mit denen ich mich beschäftigt habe, war es vor allem der Protestantismus. Der Protestantismus war sozusagen der wahre Glaube, der auch mit der Wissenschaft kompatibel ist irgendwie.
Und mit der Vernunft, ganz klar, es ist ein vernünftiger Glaube. Und alles, was Aberglaube ist, das ist dann Spiritismus oder auch Katholizismus. Das war auch der Vorwurf, dass die Katholiken eigentlich auch abergläubisch sind.
Und da wurde Kant dann gern in Anspruch genommen.

Paula:
[13:17] Okay, also Kant war quasi der Moderne, der erkannt hat, dass Protestantismus alles neu macht und viel besser ist.

Hauke:
[13:25] Ja, in gewisser Weise. Also Kant hat erkannt, … das ist überhaupt
ein wichtiger Satz.

Paula:
[13:32] Wortspiele mit Kant, das könnte ein neuer Podcast werden.

Hauke:
[13:34] Genau.
„Kant hat erkannt“, ist aber wirklich der Satz, der immer kommt. Wenn sich jemand mit Kant beschäftigt, in der Zeit um 1900, dann kommt immer der Satz: Kant hat folgendes erkannt … und dann geht es los und dann entsteht ein dickes Buch. Was war die Frage jetzt nochmal?

Paula:
[13:54] Ja, wir waren dabei, was Kant erkannt hat.
Ob er jetzt quasi den Protestantismus als die Moderne eingeläutet hat.

Hauke:
[14:05] Das war das Narrativ was dahinter stand, ja. Also es wurde in Anspruch genommen, dass Kant die vernünftige Religion oder den vernünftigen Glauben erfunden oder zumindest vorbereitet hat,
und dass alle Sachen, die sich mit Kant beschäftigen, eigentlich nur dieses Projekt dann fortsetzen, hin zum wahren Glauben oder zur wahren Religion, zum wahren Christentum.
Aber das wirklich Interessante an diesen ganzen Diskursen, die ich jetzt aufgezeigt, oder nicht aufgezeigt, nur angerissen habe, ist, dass die sich gegenseitig versucht haben, Kant zu entreißen. Also wenn es um den wahren Glauben geht,
dann ging es immer auch um die Frage, was eben nicht der wahre Glaube, wer darf Kant nicht lesen. Und das ist das Interessante … Die haben alle Kant gelesen in der Zeit, so muss man sich das vorstellen, und haben dann gesagt,
die anderen, die den auch gelesen haben, haben den aber nicht richtig gelesen oder haben den falsch verstanden oder gar nicht verstanden
oder haben die falschen Texte gelesen oder irgendwie so was.
Das ist dann das Interessante, dass bestimmte Sichten nicht einfach so entstehen, dass man sich denkt: Ach ja, darüber könnte man jetzt mal Kant lesen. Sondern, dass man sagt, „Ich habe Kant aus dem Grund richtig gelesen, weil die anderen ihn falsch gelesen haben“.

Paula:
[15:09] Okay. Und um welche Zeit geht es eigentlich? Weil du gerade meintest, in der Zeit, in der alle Kant gelesen haben.

Hauke:
[15:15] Also heute lesen alle nicht mehr Kant.

Paula:
[15:17] Ja, aber wo quasi, wo dieser Konflikt entstanden ist. Also ich meine, wie kommt es denn eigentlich dazu, dass da so ein Konfliktpotenzial entsteht, das man Kant auf so viele verschiedene Arten und Weisen lesen kann?

Hauke:
[15:31] Es war auf jeden Fall eine wichtige Sache, dass Kants gesammelte Schriften rausgegeben worden sind in den 1840er Jahren.

Paula:
[15:37] Okay, also 19. Jahrhundert.

Hauke:
[15:38] Ja, 19. Jahrhundert, genau, in einer relativ klar politisch sehr instabilen Lage.
Es ging auf die Revolution zu, die Lehrer-Aufstände und so weiter. Und in dieser Zeit erschienen die erste Kant-Gesamtausgaben.
Man konnte jetzt plötzlich auf Kants Schriften relativ einfach zugreifen als Forscher und sich damit beschäftigen.
Und dadurch haben natürlich auch viele Forscher sich mit Kant beschäftigt und daraus sind bestimmte Debatten entstanden.
Klar, wenn viele Leute sich mit Kant beschäftigen, dann geht natürlich die Frage los.
Und besonders wichtig wurden die Debatten vor allem nach der Reichsgründung, also nach der Gründung dieses deutschen Kaiserreiches 1871, wo eine Art von akademischer Landschaft entstanden ist.
Also das war ein Prozess, der im 19. Jahrhundert ganz wichtig war.
Viele neue Lehrstühle wurden eingerichtet an den Universitäten, es wurde auch da Geld rein gepumpt, vor allem in Naturwissenschaften.
Und es etablierte sich eine akademische Landschaft, in der diese Kant-Rezeption stattfand.
Und man muss sich das so vorstellen, dass nicht nur Philosophen sich mit Kant beschäftigt haben, sondern auch zum Beispiel Mediziner oder Physiker, weil es damals noch Philosophie Prüfungen gab im Examen,
und da wurde meistens Kant geprüft. Es war wichtig, dass man sich mit Kant auseinandersetzt. Das heißt, wenn ich von ‚der Zeit‘ rede,
dann rede ich meistens so grob von der Zeit 1878 bis 1910, also die Zeit des Kaiserreiches, wo eine institutionalisierte Kant-Forschung entstand.

Paula:
[16:57] Und du hattest uns auch schon erzählt, dass das Ganze mit einem ehemaligen Halleschen Professor zusammenhängt, beziehungsweise sogar eine ganz schön große Rolle in dieser ganzen Debatte gespielt hat.
Was genau hat er gemacht? Wer ist das? Was ist dadurch passiert?

Hauke:
[17:15] Halle war eine ziemlich wichtige Universität in ‚der Zeit‘, womit ich jetzt nicht sagen möchte, dass sie heute nicht mehr wichtig wäre, aber in der Zeit war sie ganz zentral für diese Debatten, weil viele Professoren hier gelehrt haben, die sich mit dem Thema beschäftigen, unter anderem auch

Hans Vaihinger Und Die Kantforschung

[17:27] der, auf den du jetzt auf die anspielst, das war Hans Vaihinger.
Der ist in den 1890er Jahren nach Halle gekommen und ist Professor geworden für Philosophie
und hat zwei Bücher zu Kant veröffentlicht. Erst einmal den Kommentar zur Kritik der reinen Vernunft in zwei Bänden und hat dann diesen Lehrstuhl hier in Halle bekommen und hat dann die Kant-Studien gegründet
hier in Halle. Und die Kant-Studien sind die bis heute wichtigste Zeitschrift der Kant-Forschung. Und das Vaihinger hat das nicht einfach gemacht, weil er so ein riesengroßer Kant-Fan war,

[18:00] sondern weil er der Meinung war, dass bestimmte Debatten zu Kant mal auf die Agenda kommen müssen, über bestimmte Sachen müssen wir uns zu Kant mal äußern. Er hat gesagt: Hier, das ist diese Zeitung.

Und jetzt fangen wir mal an. Und das Interessante daran war, dass Vaihinger sehr großen Einfluss darauf genommen hat, was da in dieser Kant-Zeitung alles erscheint.
Vaihinger war nicht nur einfach jemand, der sich mit Kant beschäftigt hat und den nicht gut fand
nach eigenem Ermessen, sondern er war auch jemand, der in diesem „Nicht-Gut-Finden“, einen ganz klaren Punkt hatte, wie man Kant zu lesen hat.
Und das war mit in diesen Kant-Studienzeit halt das Projekt, so solle die Debatte
entstehen. Und Vaihinger hatten außerdem noch die Kant-Gesellschaft gegründet, die es auch heute noch gibt, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, diese Debatte noch weiter zu führen.
Vaihinger selber ist dann blind geworden Anfang des 20. Jahrhunderts und hat dann seine Herausgeber-Tätigkeit auch abgegeben,
aber so in der Zeit der Gründung der Kant-Studien 1896 bis 1924 als Vaihinger da auch wieder ausgestiegen ist, war er so der treibende Kopf eigentlich in der deutschen Kant-Forschung in der Zeit, weil er diesen Umschlagpunkt kontrolliert hat, wo sich die Kantianer versammelt haben.Paula:
[19:07] Also heißt das auch, dass das, was er über Kant gedacht und geschrieben hat, mit den größten Einfluss darauf hat, wie Kant gelesen wurde und auch heute noch gelesen wird, oder?Hauke:
[19:16] Ja, absolut. Der Name Vaihinger taucht nicht so häufig auf in den Texten der heutigen Kant-Forschung, ist mir mal aufgefallen,
aber seine Narrative sind noch da. Vor allem wenn es um diese Moralphilosophie bei Kant geht, dann ist Vaihinger noch sehr zentral heute.
Und das liegt auch vor allem daran, dass er in dieser Zeit eben diesen „Ursprung“, nenne ich es jetzt mal, dieser wirklich stark institutionalisierten und veröffentlichten Kant-Forschung auch einfach kontrolliert hat.Paula:
[19:48] Was hat er denn gemeint? Wenn es bis heute wichtig ist, dann … Was hat er gesagt? Was hat das daran verändert, wie man Kant noch liest?

Hauke:
[19:57] Es ging in der Zeit, die ich untersuche (um 1900 Klavierauszug), ging es um die sogenannte Postulatenlehre bei Kant, also die Postulate der praktischen Vernunft.
Das ist ein Teil aus seiner zweiten Kritik, also der Kritik der praktischen Vernunft, zu dem moralphilosophischen Hauptwerk.

Die Postulatenlehre

[20:14] Und es geht darin um die Frage, was eigentlich ein moralischer Wille machen soll. Kant redet viel davon, dass er Wille moralisch sein kann.
Es geht in diesem Abschnitt darum, wie er das eigentlich machen soll.
Und der Wille soll zum sogenannten höchsten Gut streben, also dem höchsten, erreichbaren Punkt, einer Verbindung aus Glückseligkeit und Tugend, also die höchste Art der Tugend und die höchste Glückseligkeit.
Um das aber zu erreichen, braucht der Wille Schützenhilfe. Schützenhilfe ist ein blödes Wort, aber er braucht etwas, was man postulieren muss.
Das sind diese drei Postulate. Erstens muss der Wille frei sein.
Zweitens muss es einen Gott geben. Drittens muss der Mensch eine unsterbliche Seele haben. Die unsterbliche Seele braucht der Mensch, der Wille, das Subjekt, um sich diesem höchsten Gut anzunähern.
Das schafft man nämlich nicht im Leben, sagt Kant, sondern wir müssen uns auch nach dem Tod noch diesem höchsten Gut annähern, deswegen muss der Wille unbedingt eine unsterbliche Seele haben, sonst geht es nicht.

[21:10] Gott ist wichtig, damit sozusagen eine Instanz da ist, die es möglich macht, dass Moral hier in der Welt wirken kann.
Die Welt funktioniert nach Kant eigentlich nach Naturgesetzen, die mit Moral erst einmal nichts zu tun haben.
Und Gott sorgt dafür, dass Moral hier stattfinden kann, nenne ich es mal. Und das Dritte, die Freiheit, sorgt dafür, dass der Mensch selber nicht einfach nur Naturgesetzen unterworfen ist, sondern auch nach anderen moralischen Gesetzen handeln kann.
Das ist die Postulatenlehre und die stand Ende des 19. Jahrhunderts massiv in der Kritik.
Das war ein Segment in Kants Philosophie, was stark debattiert wurde und auch heute noch sehr stark debattiert wird.

[21:46] Das hatte einen Grund, und zwar hat es mit diesen Okkultisten zu tun, die ich vorhin schon angesprochen hatte.
Es gab eine Auflage von einer Mitschrift zu Kants Vorlesung, die er im 18. Jahrhundert gehalten hat, wahrscheinlich in den 1770 Jahren, weil 1888 kam sie wieder raus.
Und der Herausgeber war ein Okkultist, ein Münchner Philosoph, der sich mit okkulten, spiritistischen Sachen beschäftigt hat und hat darin die Behauptung aufgestellt, Kant habe mit seiner Moralphilosophie, mit seinen Postulaten die Unsterblichkeit der Seele bewiesen.
Oder sagen wir mal, nicht bewiesen, sondern er hat mit dieser objektiven Realität, den Spiritismus den Weg gewiesen, um diese Unsterblichkeit beweisen zu können, mit Geist der Erscheinungen und so weiter …
Und Hans Vaihinger, um jetzt auf den zurückzukommen, war ein Brieffreund von diesem Münchner Philosophen, Carl du Prel hieß der.
Er war also ein Brieffreund und war einer der ersten Rezensenten dieser vorliegenden Mitschriften, die du Prel herausgegeben hat.

[22:41] Und Vaihinger hat gesagt: „Das ist ja alles ganz gut und schön,
stimmt, Kant hat sich irgendwie mit der Unsterblichkeit der Seele beschäftigt und mit Gott beschäftigt, das ist auch alles nicht schlimm, aber du Prel hat eine Sache nicht beachtet und zwar, dass Kant diese Postulate nur als Fiktionen bezeichnet hat.“
Es ist also nichts, was wirklich existiert, sondern irgendwas, was wir brauchen, aber was eigentlich fiktiv ist. Und diese Sicht hat Vaihinger in seinen Kant-Studien breitgetreten, um das mal so zu sagen. Er hat jeden Philosophen mehrfach in mehreren Texten unter die Nase gerieben,
so müssen wir das machen, wir müssen die Postulate so lesen. Wenn wir die Postulate nicht so lesen, kommen wir in den Spiritismus.
Aus diesem Grund war es für Vaihinger so wichtig, diese Kant-Forschung und diese Kant-Studien zu bündeln, um genau diesen Spiritismus draußen zu halten.

Paula:
[23:26] Also quasi haben sie so ein bisschen den Teil von Kants Lehre genommen, der zu ihrer Interpretation gepasst hat, und zum Rest haben sie gesagt, Postulate …
Naja, nö, da hat er halt nicht so richtig … da hat er mal so ein bisschen gesponnen.

Hauke:
[23:42] Es war nicht so, dass die Postulate anrüchig aus dem Grund waren, weil die irgendwie anrüchig waren oder so, sondern weil Vaihinger wirklich immer mit Macht und immer wieder gesagt hat, das ist Spiritismus eigentlich.
Und man hat einfach nicht das genommen, was einem gefiel, sondern man hat eher das rausgeschrieben, wo man gesagt hat, da wollen die Spiritisten ran. Das wollen wir nicht.
Kant sagt, dass die Postulate objektive Realität haben
in der Kritik der praktischen Vernunft.

Paula:
[24:04] Was bedeutet das, objektive Realität?

Hauke:
[24:07] Tja,
das ist halt die Frage. Darum geht die Debatte in der Zeit. Die Spiritisten sagen, die objektive Realität bedeutet, wir können das sehen oder es kann erscheinen oder das ist wirklich da.
Kant selber nennt das Objektive obgleich praktische Realität. Das heißt, diese Postulate haben in der Moral objektive Realität, können aber nicht bewiesen werden empirisch.
Man kann die postulieren, man muss die postulieren sogar, aber man kann es nicht beweisen.
Und Vaihinger hat gesagt, das ist nur Fiktion. Das brauchen wir schon, diese drei Postulate, aber nur als Fiktion.
Wenn wir sagen, die haben objektive Realität, kommen wir in die Spiritisten-Meinung rein. Das ist das Problem daran gewesen.

Paula:
[24:45] Okay, also war das auch so ein bisschen ein Streit darum, was ist jetzt Realität und was nicht und wie ernst muss man das auch nehmen für sich selbst.
Ich verstehe noch nicht ganz, wenn das bei Kant drinsteht, wenn er das offensichtlich geschrieben hat, und wenn es eben den Anklang von Spiritismus hatte, warum konnte man nicht einfach akzeptieren, okay, Kant war halt ein bisschen Spiritist. Wieso geht das nicht?

Hauke:
[25:11] Das ist eine gute Frage.
Was mir in meiner Arbeit aufgefallen ist, ist die Sache, dass man das eigene reden über Kant
und über das, was er gemeint haben könnte, nicht trennen kann von den Leuten, die vorher schon über Kant geschrieben haben und gesagt haben, was er gemeint hat.

Auf Der Suche Nach Der Wahrheit Über Kant

[25:31] Das heißt also, dass auch meine Wahrnehmung von Kant, als ich das erste Mal Kant gelesen habe am Anfang meiner Dissertation, ist massiv von einer bestimmten Sicht geprägt worden.
Und zwar, dass die Postulate irgendwie so eine Sache sind, über die viel geredet wird. Dann habe ich da reingeguckt und hab mir das angeguckt und gesehen: Okay.
Er schreibt jetzt das und das, und das ist für mich alles total unklar und sehr offen für Interpretationen gewesen.
Aber natürlich habe ich selber auch eine Sicht mitgebracht. Und ich glaube, dass man nicht einfach sagen kann: Okay. Das ist auch Teil von Kant.
Und das ist auch Teil von Kant. Oder, dass man das nicht gesagt hat, liegt einfach daran, dass es auch vorher schon Meinungen zu Kant gab,
dass Kant zum Beispiel seine eigene Arbeit auch kommentiert hat. Und dass einfach auch in gewisser Weise Teil dieses Kant-Diskurses ist, den man immer aufruft, wenn man über Kant redet.
Also in gewisser Weise redet man, wenn man über Kant redet heutzutage, auch immer über Vaihinger und über seine Kollegen,
wie Hermann Cohen zum Beispiel, ein Forscher in Marburg. Und man kann das schlecht, meiner Meinung nach, schlecht trennen, weil einfach die historische Rezeption in gewisser Weise auch einen Kant erfindet, über den man auch redet, wenn man eben über Kant redet.

Paula:
[26:41] Und das kann man dann nicht trennen? Also man weiß nicht mehr so wirklich, was hat Kant genau … was ist der wahre Kant.

Hauke:
[26:45] Genau. Also ich kann das nicht sagen, weil es so eine Pluralität von Wahrheitsansprüchen auf diesen Kant gibt, die sich alle gegenseitig kloppen um diesen Philosophen,
dass in gewisser Weise die Spur zur Wahrheit einfach verloren ist.
Und wer weiß, ob sie je existiert hat, aber die Wahrheit über Kant ist Teil dieser Debatte.
Es geht darum, die Wahrheit bei Kant zu erkennen oder zu sagen oder auch abzuwehren.
Und deswegen kann man die Frage nach der Wahrheit bei Kant nicht trennen von diesen Debatten um die Wahrheit bei Kant.

Paula:
[27:19] Und du bist ja quasi jetzt, wie ich vorhin schon gesagt habe, so ein bisschen an der theologischen Fakultät angesiedelt.
Da würde ich nochmal gern ein bisschen näher drauf eingehen. Du hast ja jetzt schon viel erzählt, warum das jetzt auch für den Protestantismus wichtig war, dass Kant was zur Kirche gesagt hat oder nicht. Aber was genau ist da jetzt der Knackpunkt mit Kant und der Kirche?

Weil das passiert ja eigentlich, also in der Geschichte für mich jetzt als Laie ist es schon häufig passiert, jemand hat etwas über Religion gesagt und das war mal gut und mal schlecht und wurde halt immer wieder rausgeholt, wenn man Lust drauf hatte.

Was ist da der Knackpunkt bei Kant?

Hauke:
[27:54] Das hängt wieder mit der Rezeption zusammen in gewisser Weise. Also was der Knackpunkt bei Kant ist …

Kant Und Die Kirche

[27:59] tja, schwierig. Was hat Kant zur Religion gesagt? Auch das ist für mich nie eindeutig gewesen.
Aber das, was um 1900 gemacht wurde, um Kant für den Protestantismus oder vor allem eine bestimmte Spielart des Protestantismus, nämlich den staatstragenden Protestantismus, in Anspruch zu nehmen, war, dass man gesagt hat, es gibt irgendwie eine Deutsche Nation in der Geschichte, obwohl es die ja eigentlich, naja,

[28:24] diesen Nationalstaat, der sich dann Deutsches Reich nannte, erst ab 1871 gibt.
Also es gibt so eine bestimmte Nation in der Geschichte, die vor allem bei Luther ganz klar vorkommt. Luther gegen das römische Papsttum und gegen den vermeintlichen Katholizismus und so. Und da ist die Nation sozusagen aufgestanden,
die deutsche Nation. Das ist das Narrativ von damals. Und Kant erscheint in diesem Kontext vor allem als eine Art Rationalisierung von Luther,
als jemand, der sozusagen den Geist, der Luther angeblich geritten hat, habe sich sozusagen auch in Kant irgendwie gezeigt, nämlich der sogenannte protestantische Geist oder Deutsche Geist oder Deutsch protestantische Geist oder wie auch immer.
Und deswegen gilt Kant als so eine Art Fortsetzer
dieses Luther-Projektes. Und das hängt wiederum damit zusammen, dass die Deutsche Nation als vor allem so eine Art stark protestantisches Projekt in Anspruch genommen wurde. Viele protestantische Autoren haben gesagt, die deutsche Nation ist eine genuin protestantische Erfindung gewesen. Leopold von Ranke zum Beispiel, ein recht bekannter Historiker aus der Zeit, hat das gesagt.
Einige andere Historiker und Philosophen sind ihm da auch gefolgt.

[29:29] Und es galt darum, sozusagen auf Basis dieser Kant- und Luther-Rezeption eine Art von philosophischer Rechtfertigung oder Legitimierung dieses deutschen Staates, dieses Kaiserreiches zu erreichen.
Denn es gab im 19. Jahrhundert immer die Debatte, nicht immer die Debatte, aber es gab eine wichtige Debatte, wie dieses Kaiserreich eigentlich aussehen soll, welche Staaten sollen da eigentlich dazugehören.
Und da ging es um die sogenannte kleine Großdeutsche Frage: Gehört Österreich noch mit dazu zu Deutschland oder nicht?
Und letzten Endes gehörte eben Österreich und später Österreich-Ungarn nicht zu Deutschland
offensichtlich, also zu diesem Kaiserreich. Und das musste man auch irgendwie legitimieren, weil einfach immer noch ein Großteil der deutschen Bevölkerung katholisch war
in der Zeit, im Rheinland und in Bayern vor allem. Und das hat man dann versucht, indem man so eine Luther-Kant-Linie konstruiert hat, die dann irgendwie um 1900 zu sich gekommen ist.

Paula:
[30:25] Also hat man so ein bisschen die Anfänge eines deutschen Nationalstaates auf Kant basiert.

Hauke:
[30:33] Genau. Und es war halt auch eine Debatte, die nicht einfach nur religiös war.
Es ging um religiöse Themen in der Zeit. Aber Kant wurde in einem Kontext zitiert, in dem Religion auch eine sehr starke politische Rolle einfach gespielt hat.
In einer Zeit, wo politisch abweichende Meinungen, vor allem Meinungen, die von der Bismarck-Meinung abwichen in der Anfangszeit des Kaiserreiches, wurden auch stärker geahndet als heute einfach.
Bismarck war relativ umtriebig, die Presse sich auch zu Diensten zu machen
in gewisser Weise. Und da war einfach eine gewisse Kant-Lesart auch ein Bekenntnis zu diesem Staat, der da entstanden ist.
Wenn man also gesagt hat, Kant und Luther, dann hat man sich damit auf die Seite der politischen Macht gestellt in gewisser Weise.

Paula:
[31:15] Okay. Und sind wir heute dann auch noch Kant? Ist Deutschland immer noch Kant? Wenn damals Bismarck aufgebaut hat … Ich weiß nicht, aus meinem Geschichtsunterricht,
da hieß es: Naja, Bismarck hat das Sozialsystem eingeführt und heute in Deutschland steckt da noch ganz viel drin. Steckt dann also auch noch Kant in Deutschland?

Hauke:
[31:39] Das ist eine wirklich gute Frage. Das ist eine
Frage, die ich, glaube ich, weder mit „Ja“ noch mit „Nein“ beantworten möchte, weil einfach heutzutage Kant, der Name, der Philosoph, seine Werke im Ethikunterricht eine Rolle spielen.
Ich selber hatte keinen Ethikunterricht an der Schule, das heißt, ich habe also Kant in der Schule nicht gelesen offensichtlich.

Wie Aktuell Ist Kant?

[32:06] Die Philosophie von Kant wird natürlich noch rezipiert und natürlich haben wir auch mit bestimmten Effekten dieser Debatte zu tun heutzutage.
Aber ich glaube, dass diese Effekte vor allem eine bestimmte akademische Debatte beeinflussen und weniger eine politische Debatte. Klar verortet sich auch die heutige Kant-Forschung in einem bestimmten Kontext,
vor allem im Kontext der Globalisierung, im Kontext bestimmter postkolonialer Debatten, die darauf, wenn es um die koloniale Vergangenheit der Welt geht und vor allem Europas Ausgang von diesem Ort, aber ich glaube …

[32:45] Tja, ist Deutschland noch Kant? Ne, ich glaube nicht.

Paula:
[32:46] Auch Demokratie … Ist Demokratie Kant?

Hauke:
[32:50] Kant war selber kein Demokrat. Kant hat die Demokratie als Herrschaft abgelehnt und das hat er vor allem aus dem Grund getan, weil er die Französische Revolution vor Augen hatte,
in der die Terrorzeit sozusagen Kant vor Augen geführt hat, was sozusagen die Probleme einer Demokratie seien.
Oder Kant hat zumindest geglaubt, zu erkennen, was die Probleme einer Demokratie seien, wenn man nach Frankreich guckt in der Zeit. Und er hat darauf auch seine Philosophie auch in gewisser Weise, sein Philosophie fand in einem Kontext statt, der kein demokratischer Staat war,
nämlich in einer Monarchie unter Friedrich dem Zweiten. Das heißt also, ist die Demokratie nach Kant? Tja, das ist eine gute Frage. Kant war aber selber kein Demokrat.

Paula:
[33:39] Okay, also nur irgendwie nochmal kurz für mich zusammenzufassend: Wir haben diese verschiedenen kleinen zersplitterten Staaten in Deutschland gehabt, die irgendwie zusammengehören wollten.
Großdeutsche, Kleindeutsche Frage, was du meintest, und dann war Kant gut zu benutzen, um Protestantismus zu begründen, um den ganzen Staat irgendwie innerlich zusammenzuhalten und bis heute ist Kant noch da,
wie viel, weiß man nicht so richtig, aber auf alle Fälle ja anscheinend immer noch präsent und beeinflusst so ein bisschen, ja, was man lernt, wie man Philosophie liest und interpretiert und unser Staatssystem,
aber offensichtlich nicht direkt, weil Kant kein Demokrat war. Hab ich das richtig verstanden?
Hauke:
[34:22] Ja, auf jeden Fall. Aber Kant, also unser Staatssystem ist deswegen nicht von Kant beeinflusst, weil Kant kein Demokrat war, sondern die Debatte um Kant, die ich untersucht habe,
heutzutage, die dreht sich vor allem um diese Narrative, wie wir eigentlich heute Kant lesen, wie wir philosophieren und darum auch, wie wir heute über Vernunft reden auf jeden Fall.
Der größte Einfluss dieser Kant-Debatte um 1900 auf die heutige Zeit besteht wahrscheinlich darin, wie man über Vernunft und wie man über Erkenntnis redet. Und Vernunft ist natürlich in gewisser Weise auch ein politischer Begriff.Paula:
[35:02] Total, ja. Aber hat sich da viel verändert, wie wir über Vernunft und Erkenntnis reden? Ist das wichtiger geworden, weniger wichtig, anders wichtig?Hauke:
[35:11] Es wird sehr viel über Vernunft heute geredet, habe ich so den Eindruck. Und es ist in gewisser Weise auffällig, dass Vernunft von vielen beansprucht wird und in Anspruch genommen wird und das immer mit diesem Ausschluss vor sich geht:
Vernunft … Ich hab Vernunft, du hast keine Vernunft, oder ihr oder wer auch immer. Darüber wird viel geredet. Und in gewisser Weise ist das Verständnis davon, was Vernunft ist, von einer bestimmten Kant-Lesart geprägt.
Vernunft ist zum Beispiel nicht Aberglaube, das ist das Erste, was da drin steht. Vernunft ist nicht Aberglaube. Vernunft ist in gewisser Weise auch nicht Religion.
In gewisser Weise, ja, es kommt auch wieder auf den Diskurs an. Es gibt auch Leute, die sagen, vernünftige Religion ist eben nicht unvernünftige Religion. Da geht es schon wieder los. Man kann es nur, wenn man das holzschnittartig darstellt, kommt man immer in die Gefahr, dass man zu einfach wird.
Vernunft kann sein auch nicht Unvernunft und das ist sehr von diesem Diskurs um Kant geprägt.
Vaihinger hat gesagt: Vernunft ist genau das, was die Spiritisten nicht machen
mit ihrem Kant. Und hat deswegen gesagt: Die Vernunft hat eine bestimmte Art und Weise der Erkenntnis, die mit Fiktionen zu tun hat, vor allem was die Postulatenlehre angeht.

[36:20] Vaihinger war nicht direkt anti-religiös, hat aber eine bestimmte Art von Spiritismus abgelehnt, die er als Aberglaube gebrandmarkt hat.
Und dieses Vernunftsverständnis, Vernunft ist nicht Aberglaube, Vernunft ist nicht irrational oder irgendwie sowas. Das ist massiv heute vorhanden.
Das prägt die akademische Debatte massiv.
Ich glaube, auch viele andere Debatten, in denen es um Vernunft geht auch.

Paula:
[36:42] Vernunft ist nicht Aberglaube, nicht irrational. So richtig verstehen tue ich nicht, was damit gemeint ist. Was wäre es denn, wenn Vernunft Aberglaube ist?
Würde das sein, ich tue irgendwas und es passiert mir, weil es mein Schicksal ist und ich hätte da gar nicht drüber nachdenken können und es ändern können … Ist das dann so etwas, so ein Schicksalsglaube, ist das so etwas wie Aberglaube in der Vernunftfrage.

Hauke:
[37:06] Die Vernunftfrage besteht vor allem darin, was das überhaupt sein soll.
Viele fragen sich: Was ist denn eigentlich Vernunft? Ich habe mich das zumindest gefragt, als ich mit meiner Arbeit anfing.

Paula:
[37:18] Ich habe auch keine Ahnung.

Hauke:
[37:21] Und das Ding ist halt, dass wenn so Viele über Vernunft reden, dann natürlich auch viele für sich in Anspruch nehmen, von eben der Vernunft zu reden und sie tun es in einem Diskurs, in dem sie wissen, oder voraussetzen, dass auch noch andere über Vernunft reden.

Was Ist Vernunft Und Was Ist Aberglaube?

[37:34] Und gerade die Abgrenzung dessen, was Vernunft ist, nämlich nicht Aberglaube, die erscheint so ein bisschen banal.
Klar, würden jetzt alle sagen, natürlich ist das nicht Aberglaube.
Aber es kommt eben drauf an, was dann als Aberglaube gesehen wird. Wenn man sich zum Beispiel anguckt in der DDR die Kant Rezeption, die es gegeben hat, war Aberglaube gleich organisierte Religion,
und da vor allem Christentum. Und Kant galt als derjenige, der durch seine Vernunft
diesen Glauben oder, sagen wir mal, diese Religion abgeschafft hat und gesagt hat, die theologischen Reste, die noch da sind, hat Kant getilgt und uns in die säkulare Moderne geführt, oder wie auch immer man das nennen möchte.
Es geht also … wofür ich mich interessiere, ist, welche Begriffe sozusagen auftauchen, die gerade nicht Vernunft sind.

[38:20] Also Aberglaube: was ist Aberglaube? Ich weiß nicht, ob Aberglaube ein Schicksalsglaube, oder Schicksalsglaube Aberglaube ist. Es kommt darauf an, was man dann darunter versteht, was es eben sein soll, dieser Aberglaube.
Aber natürlich wird die Vernunft immer von dem abgegrenzt, was eben nicht vernünftig ist.
Eine bestimmte Art von Kant zu lesen zum Beispiel, wird als nicht vernünftig gesehen, oder eine bestimmte Art des Denkens wird nicht als vernünftig gesehen, oder eine bestimmte Art, ja, was auch immer …
Aber das Reden um Vernunft ist immer ganz zentral davon begleitet, was eigentlich nicht vernünftig sein soll.

Paula:
[38:57] Und diese Debatte bringt Kant mit voran? Oder hilft mir Kant zu verstehen, was Vernunft ist?

Hauke:
[39:05] Heute noch? Ich denke
Kant hat, habe ich vorhin schon mal gesagt, in einen bestimmten Kontext philosophiert. Er hat sich mit den Philosophen beschäftigt und die Frage ist, die ich mir mehrmals gestellt habe: Warum wird dieser Kant, der im 18. Jahrhundert geschrieben hat, immer noch gelesen?
Auch aus dem Grund, weil ich selber auch Kant-Übungen an der Uni gegeben habe und gebe.
Ich glaube, das Kant sich mit einer bestimmten Frage beschäftigt hat, die heute noch von Interesse zu sein scheint, nämlich die Frage: Was ist Vernunft und was ist Aufklärung?
Und auf der einen Seite hat Kant sich mit den Fragen seiner Zeit auseinandergesetzt, und auf der anderen Seite spielen die Fragen noch eine Rolle. Und dieser Diskurs um diese Vernunft, in dem Kant so zentral war, der ist heute irgendwie noch wichtig.

[39:48] Die Frage: Wie kann man Vernunft fassen? Wie kann man über Aufklärung reden? Was ist eigentlich Aufklärung? Ist die abgeschlossen oder geht die immer weiter? Denn Kant selber hat gesagt: Die Aufklärung ist nie abgeschlossen.
Das ist ein Projekt der Kritik und Kritik muss immer wieder geübt werden und gerade auch durch diese Art, dass Aufklärung nicht abgeschlossen ist, und dass Kritik immer wieder geübt werden muss, ist natürlich die Debatte darum hochaktuell.
Man kann sich sicher darum streiten, ob man heute auch Kant lesen muss oder ob das interessant ist.
Ich finde die Frage für mich nicht so interessant, was bei Kant so steht für heute.
Weil das ist auch schwierig, weil, wie gesagt, wenn Kant die Demokratie ablehnt, wie kann man den für die heutige Demokratie nutzbar machen. Du hast es ja vorhin gefragt, ja.
Und für mich geht es gar nicht so darum diesen Kant-Text zu nehmen und den so ein bisschen zu übertragen, sondern
für mich ist die Frage interessant: Welche Debatten hat Kant angerissen, los gestoßen.
Welche Grenzen hat er eingezogen selber? Wer war bei Kant denn unvernünftig? Bei Kant zum Beispiel haben die Juden keine vernünftige Religion gehabt
in der Religionsschrift. Und für mich stellt sich die Frage: Warum werden diese Grenzen gezogen? Und kann man die verändern oder sollte man die auch verändern? Kann man dann aber trotzdem noch über Vernunft reden? Und das ist ganz wichtig.

Kann man sozusagen Leute einschließen in denen Vernunft-Diskurs, oder Leute zu Gehör kommen lassen, die Kant selber nicht auf dem Schirm hatte, oder die Kant auch dezidiert ignoriert hat.

[41:08] Wenn Kant von Religion redet, meint er auch eine ganz bestimmte Religion. Das, was in seinen Augen eine vernünftige Religion ist, und das, was in seinen Augen „Schwärmerei“ ist, das gilt als nicht vernünftig.
Für mich stellt sich die Frage: Warum ist das so? Warum kann man sozusagen in der Vernunft-Diskurs nicht auch über das reden, was Kant als vermeintlich schwärmerisch bezeichnet hat?
Das ist eine Frage, die verdammt aktuell ist, weil die mit der Kritik an philosophischen Denkstrukturen zusammenhängt und mit der Kritik an philosophischen Ergebnissen zusammenhängt. Kann man sozusagen da weiterdenken, wo Kant vielleicht angefangen hat, zu denken?
Und kann man dann dieses Denken in der heutigen Gegenwart gebrauchen?

Paula:
[41:46] Es ist quasi schon eine grundlegende Frage, wie geht man an historische Texte ran, wenn da irgendein Fakt steht, irgendeine Aussage … Okay, klar.
Ich sage, ich habe mir die Inspiration von dem Autor, der Autorin geholt und die hat das und das gesagt, aber heute kann man das nicht mehr so sagen, und ich nehme jetzt zwar die Aussage, aber ich transformiere die.
Und dann stellst du quasi die Frage, ob man das darf oder nicht. Ist das der Kern?

Hauke:
[42:14] Die Frage nach dürfen oder nicht dürfen ist wieder so eine, als ob ich selber wüsste, was man eigentlich darf mit Kant und nicht. Das weiß ich natürlich nicht.
Ich habe bestimmte Pläne im Kopf, was man vielleicht machen könnte, zum Beispiel über Vernunft reden, über Themen, wo Kant die Vernunft nicht gesehen hat. Aber

[42:36] es geht mir um die Frage: Wie werden historische Texte gelesen erst einmal? Welche Arten werden da rausgenommen?
Und deswegen hab ich mir, meine Arbeit habe ich im Jahr 2000,
mir zuerst die Frage gestellt: Wer hat es eigentlich heute mit Kant beschäftigt? Um einfach erst einmal eine Debatte abbilden zu können, was ist eigentlich das Thema.
Um dann herauszufinden, welche Lese-Strategien genommen werden und vor allem auch, welche Autoren zitiert werden, die sich vorher schon mit Kant beschäftigt haben.
Um eine Art von Beschreibung zu erstellen, welche Themen es im Diskurs gibt und wie die entstanden sind zu Kant. Und warum es bestimmte Themen im Diskurs offensichtlich nicht gibt, oder die im Diskurs dezidiert verschwiegen werden, die man nicht
haben will. Also ein berühmter Kant-Forscher,
Otfried Höffe, hat geschrieben, dass die Postulatenlehre, die ich schon angesprochen hatte, das eine Theologie der Philosophie wäre. An der Stelle würde Kant wieder heimlich soziologische Sachen in die Philosophie einführen, die eigentlich säkular sein muss.
Und ich habe mir die Frage gestellt: Wie kommt er denn jetzt da drauf?
Ich selbst arbeite als Historiker, der selber nicht Theologie studiert hat, an einer theologischen Fakultät und frage mich, was es mit dieser Theologisierung, die Höffe auf sich hat, und gucke dann auf die Quellen von Höffe und auf die,
die er zitiert und wie er sie zitiert. Und versuche dann abzubilden, wo es herkommt.

Paula: Und wo kommt es her?

[44:00] Aus der Debatte um 1900, weil die Autoren, die damals geschrieben haben, Hans Vaihinger zum Beispiel
und Hermann Cohen, weil deren Narrative noch auftauchen.
Die werden auch benannt namentlich teilweise, aber vor allem bestimmte Narrative in Bezug auf diese Postulatenlehre tauchen immer wieder auf. Wenn man sich die Debatte heute anguckt über die Postulatenlehre, die relativ stark geführt wird immer noch,
dann gibt es eine bestimmte Art von Grundkonsens, der sagt, die Postulate sind
entweder komisch oder seltsam und passen nicht ganz in diese kantische Philosophie rein, oder die müssen auf eine bestimmte Art und Weise interpretiert werden, was auf das Gleiche hinausläuft.
Immer geht es darum, dass das etwas ist, was in der Kantischen Morallehre nicht so ganz passt. Und ich habe mich gefragt: Was haben die denn mit dieser Postulatenlehre? Warum geht es immer um diese Postulaten?
Und ich habe gesehen, dass die einfach Autoren zitieren, namentlich und nicht namentlich zitieren,
die auch schon so eine starke Front gegen das Postulatenlehre vertreten haben. Und letzten Endes, wenn man das historisch aufdröselt, Hans Vaihinger hat sich gegen den Spiritismus ausgesprochen, Hermann Cohen genauso,
und haben da ihre Kant-Kritik auch formuliert und ihre Ablehnung der Postulatenlehre.
Und diese beiden Autoren werden zitiert und heute werden die Postulate auch abgelehnt
mit diesen beiden Autoren. Das heißt, wenn man das runterbricht, basiert die heutige Ablehnung der Postulatenlehre auf einer angedeuteten Front gegen den Spiritismus.

Paula:
[45:23] Aber muss man das heute noch so deuten, oder kann man sich auch nicht einfach heute die Frage stellen: Okay.
Ja, damals fanden die das ganz schlecht und das wurde irgendwie immer so weitergeführt. Aber was hindert mich da dran Kant ganz ohne diesen Einfluss zu lesen?
Warum muss das heute immer noch schlecht sein? Warum kann man nicht auf einmal wieder erfinden, dass die Postulate super sind?

Hauke:
[45:44] Weil das hängt damit zusammen, was ich vorhin schon einmal gesagt hatte, dass es sozusagen nicht trennbar ist, wenn du von Kant redest, ist es erstmal nicht davon trennbar, dass dieses Thema so eine starke Rolle spielt. Du hast es gerade selber angesprochen.
Ich kann ja auch akzeptieren, dass es mal so war und mache es eben anders.

[46:01] Die Debatte um die Postulatenlehre ist so massiv und mächtig inszeniert worden in dieser Zeit, dass sie erstens heute noch zitiert wird und zweitens selbst Leute, die sich versuchen diesem
strikten Verdict gegen die Postulatenlehre zu verweigern, wie Thomas Höfling zum Beispiel, dass selbst die das auf Basis dieses Diskurses tun und sagen, es ist eben nicht so.
Aber selbst damit rufen die immer wieder diese Front auf.
Ich denke, dass die Rede über die Postulate und über Kants Morallehre schwierig von diesem massiven Diskurs zu trennen ist, der aber auch damit zusammenhängt, dass gerade um 1900 diese kanonische Kant-Forschung auch in gewisser Weise erfunden wurde.
Nicht nur diese Kant-Studien und die Kant-Gesellschaft, sondern in der Zeit sind auch Kants gesammelten Schriften entstanden von der Preußischen Akademie der Wissenschaften, die bis heute noch bearbeitet werden, bis heute eigentlich die kanonische Kant-Ausgabe sind.
Und gerade das ist alles in einer Zeit passiert, in der man sich mit diesem Spiritismus beschäftigt hat, in der man sich auch mit materialistischen Autoren, wie dem Biologen Ernst Haeckel zum Beispiel, beschäftigt hat, der auch gesagt hat: „Kant hat in der Postulatenlehre eigentlich Spiritismus gemacht,
deswegen finde ich das schlecht“ und deswegen, man kommt von diesem Diskurs in gewisser Weise nicht los. Und meine Meinung ist, wenn man eine Art von neuer Interpretation der Postulatenlehre machen möchte, so wie du es dir gewünscht hast,

[47:16] dann muss man zuerst erstmal gucken, wo eigentlich dieser Diskurs herkommt über den wir gerade reden.
Ansonsten werden wir immer wieder über dieselben Themen reden, was die Postulaten angeht, denke ich.

Paula:
[47:26] Okay, spannend. Das muss ich gerade erstmal ein bisschen verarbeiten.

Hauke:
[47:31] Bei mir hat es drei Jahre gedauert.

Paula:
[47:34] Ich versuche das nochmal ganz kurz irgendwie aufzurollen, weil ich finde, das hat so viele einzelne Stricke, das muss ich mal verweben.
Man hat Kant. Der schreibt was und das ist anscheinend sehr wichtig, weil das Themen betrifft, die für uns alle immer wichtig waren und immer wichtig sein werden, wie zum Beispiel Vernunft und Moral und Religion.
Und dann fängt man damals an in so zerpflückt zu lesen, weil es eben eine Zeit war mit viel Umtrieb, mit viel Veränderung. Genau.
Und dann entwickeln sich diese drei groben Richtungen, wie du schon meintest, ganz am Anfang und eine Richtung davon ist am stärksten, die mit Hans Vaihinger, die wird am stärksten.
Und das beeinflusst dann einfach komplett alles, wie hinterher Kant gelesen wird, wie wir heute noch Kant lesen. Weil, ja klar, selbst wenn man nicht davon beeinflusst sein möchte, ist man ja davon beeinflusst.

Zusammenfassung

[48:33] Und das macht Kant so prekär.

Hauke:
[48:35] Das macht es in gewisser Weise so schwer, Kant zu lesen.
Als ich meine Seminare über Texte von Kant gemacht habe, habe ich zu Anfang die Studierenden gefragt, wo sie Kant schon mal gehört haben und da kam dann meistens die Antwort, die du am Anfang gesagt hast, aus dem Ethikunterricht.
Was ist Aufklärung? Und habe versucht, einen Zugang zu den Texten zu finden.
Als ich selber angefangen habe, Kant zu lesen, war das sehr ambivalent. Auf der einen Seite war es unglaublich schwer zu lesen für mich. Auf der anderen Seite auch unglaublich interessant, weil ich mir die ganze Zeit gedacht habe, das ist irgendwie cool, was er schreibt,
diese Kritik, wie man Erkenntnis begrenzt und so weiter.
Ich fand das echt toll. Und ich habe versucht, eine Art von Nicht-Verstehen an den Anfang zu stellen.
Ich habe den Studierenden gesagt: Passt auf, wenn ihr das nicht versteht, heißt das nicht, dass ihr zu blöd seid oder so.
Es geht eher darum, genau dieses Nicht-Verstehen zu thematisieren und gerade diesen schweren Text auch in seiner Schwere und auch in seiner Fremdheit wahrzunehmen.
Nämlich warum? Um sich von diesen narrativen zu lösen.

[49:39] Die Narrative sagen ja immer, auch Vaihinger … Vaihingers Argument ist eigentlich, Kant zu lesen,

abgesehen von seinem …, Kant selber schreibt schwer,
aber abgesehen davon, dass er so schwer schreibt, ist seine Aussage eigentlich total einfach. Ein bisschen Erkenntniskritik und die Postulate sind Fiktion so zusammengestaucht. Und das sichert der ab und dann wird das zitiert und widerlegt oder bewiesen oder was auch immer.

[50:01] Ich hatte versucht, eine Art von Zugang zu machen, der aber genau versucht sich kritischer mit dem Text selbst auseinanderzusetzen und habe deswegen gesagt, am Anfang steht eben das Nicht-Verstehen von Kant.
Denn wenn wir am Anfang Kant verstanden haben, dann lesen wir Kant nicht mehr, dann lesen wir das, was uns selber im Kopf herumgeht in Kant rein, was man eh immer macht. Aber es geht auch darum, dass man diesen Text auch in gewisser Weise thematisiert, indem
man sagt:“Ich verstehe es nicht.“ Gerade da entstehen ja die interessanten Fragen über Kant, die heute noch eine Relevanz haben.
Ich verstehe nicht, warum Kant jetzt heutzutage mir hier in diesem Land, in dieser Stadt, wo auch immer in Europa auf der Welt lebenden Menschen, warum sollte Kant mir was sagen.
Das ist eine der interessantesten Fragen, die es geben kann, weil die Leute nämlich, meiner Meinung, dann verstanden haben, dass es wirklich zwischen heute und gestern eine Art von Differenz gibt, die eben das Heute und Gestern unterscheidet.
Die Differenz ist vielleicht nicht absolut. Das gestern sucht uns heim, könnte man vielleicht sagen, was man daran sieht, dass man noch Kant liest.
Aber die Frage, die vom Unverständnis herkommt, die finde ich viel interessanter.

[51:11] Und das ist vielleicht eine Strategie, um eine Art von neuem Ideenpool
in diese Kant-Philosophie einzutragen und vielleicht Kant auch in Debatten zu benutzen, in denen er bisher entweder noch nicht benutzt wurde, oder nur auf sehr einseitige Weise benutzt wurde.

Paula:
[51:28] Also quasi Kant neu aufrollen.

Hauke:
[51:32] Ja, neu problematisieren. Und zwar unter den Voraussetzungen, dass wir in einem bestimmten Kontext leben und dann die Frage stellen: Wie kann ich über diesen Kontext eigentlich sprechen?
Welche Autoren kann ich denn nehmen? Ja, sowas. Es ist eigentlich, es klingt so ein bisschen banal.
Irgendwie geht jeder mit einer Frage an Kant ran. Aber ich denke, dass es in gewisser Weise Unterschiede zwischen den Fragen gibt, die sich nicht einfach nur auf unterschiedliche Standpunkte beziehen, sondern auch bestimmte Effekte haben können.
Und für mich ist die Frage auf jeden Fall, zum Beispiel die Frage: Was ist Aufklärung?
Wenn man die an Kant stellt, ist die Frage viel offener, finde ich, als wenn man die Frage stellt: Welche Art von Aufklärung hat Kant gemeint?

[52:21] Was ist Aufklärung? Ist erstmal eine Frage, die ein Debatte offensichtlich verlangt, denn die Frage selbst ist relativ unklar. Was ist Aufklärung?
Aber die Frage: Welche Art von Aufklärung benutzt Kant? Die setzt voraus, dass man schon ein bestimmtes Wissen im Kopf haben muss, dass es überhaupt erstmal verschiedene Arten von Aufklärung gibt,
und dass Kant sich eine oder mehrere davon ausgewählt hat.
Das setzt schon sehr viel voraus. Man muss schon ein bisschen studiert haben, um das zu wissen.
Es gibt verschiedene Aufklärungen, verschiedene Vernünfte oder was auch immer. Das ist aber kein Zugang, den ich damals leisten konnte, als ich angefangen hab, mich mit Kant zu beschäftigen. Und ich finde den Zugang auch weniger interessant, weil ich wirklich der Meinung bin,
dass die Debatte über Kant in den Seminaren, die ich gegeben habe, und auch mit Freunden, Freundinnen, mit denen ich darüber geredet habe, irgendwie was macht, was machen kann.

Paula:
[53:11] Spannend. Du hast quasi angefangen mit der Frage: Warum lesen alle Kant? Warum ist Kant noch so spannend?
Nächste Frage: Mit welche Erkenntnis bist du raus gegangen? Du bist quasi auf jeden Fall darüber gestolpert, dass man über diese Frage: „Warum lesen alle Kant?“,
man zu den ganzen anderen Fragen kommt: „Wie lese ich überhaupt was und warum und wofür und wie offen muss ich mich an etwas
rantrauen.“
Also eigentlich eher so generelle Sachen, wie man mit Geschichte und Philosophie umgeht.

Hauke:
[53:45] Ja genau. Es war, die Diagnose stand am Anfang, dass um Kant eine sehr plurale Debatte geführt wird heute, aber wenn es immer um diese Postulatenlehre geht, dann wird es schwierig.
Dann erscheint es immer so als etwas, was man nicht haben will, und das wirklich Fronten übergreifend aus verschiedenen Debatten-Lagern und das war die Diagnose und ich hab mich gefragt: Wieso?
Kant redet über Gott, Dasein Gottes und Unsterblichkeit der Seele als Postulate. Warum finden das die Leute so blöd?
Was ist da eigentlich das Problem dran? Und ich habe dann geguckt, warum es deren Problem ist und wo die dann einfach die Autorität hernehmen, diese Meinung zu vertreten.

Paula:
[54:31] Und was ist es, was für dich dabei raus gekommen ist?

Hauke:
[54:35] Ich hab so ein bisschen Spaß daran gefunden, Kant zu lesen auf jeden Fall. Das ist jetzt kein Forschungsergebnis.

Das möchte ich auch nicht als Forschungsergebnis verstanden haben. Das ist, glaube ich, eine eher persönliche Sache.
Also was ich meine mit, es macht Spaß Kant zu lesen, dass es interessant ist, auf die Suche zu gehen in diesen Texten, nach bestimmten Fragen, die mich umtreiben als Mensch des 21. Jahrhunderts.
Aber die konkrete Diagnose meiner Arbeit wiederum war, dass diese Kant-Lesart eine Geschichte hat, die nicht einfach nur zufällig da ist und sich zufällig durchgesetzt hat.
„Oh, wir haben Vaihinger gerade gefunden, ja cool, dann nehmen wir den jetzt mal“ … sondern der Kurs um 1900, diese Lesart wurde mit Macht abgesichert und zwar mit der Macht, die man als Akademiker in Halle, als Vorstand dieser Zeitschrift hat, nämlich zu entscheiden, wer da veröffentlichen darf und wer nicht.
Und Vaihinger ist vor allem auch als Kant-Herausgeber, war der sehr gern gesehen
in der Zeit, alle haben gesagt: „Das ist ja ganz toll, was der da macht.“ Vaihinger selber, seine Theorie wurde teilweise auch angezweifelt, aber diese Herausgeberschaft von dieser Zeitung, von dieser Zeitschrift, das fanden alle total geil.

Und dadurch war seine Sicht im Diskurs sehr präsent rezipiert.

Paula:
[55:43] Na, dann war ja Halle wirklich auch der perfekte Ort für dich, um das hier zu erforschen, wenn irgendwie der Diskurs komplett hier in die eine wichtige Richtung gestoßen worden ist.

Hauke:
[55:53] Ja, absolut. Ich möchte jetzt nicht in irgendwelchen Lokalpatriotismus ausarten, aber es war sehr interessant, dass gerade in Halle und Leipzig erstmal viele Zeitschriften liegen aus dem 19.
Jahrhundert, teilweise auch in digitalisierter Form im Internet zu finden sind. Und natürlich liegt hier auch Vaihingers Nachlass am Uni-Archiv und es war auf jeden Fall sehr bequem für mich, hier dieses Thema zu erforschen,
weil viele Debatten irgendwie in der Nähe waren und sind.

Paula:
[56:21] Was denkst du, kann jetzt damit los gestoßen werden? Oder was nimmst du für dich mit? Drei Jahre lang mit dem Thema und, ich meine, du wirst jetzt wahrscheinlich weiter andere Sachen erforschen und darüber nachdenken in jedem Fall.
Was hat das bei dir verändert in der Wahrnehmung für solche Themen?

Hauke:
[56:41] Drei Jahre Kant, 40 Jahre Wüste sozusagen.

Paula:
[56:44] So ungefähr.

Hauke:
[56:47] Ich hab in der Zeit, in der Dissertation einen ganz anderen Zugang zu Texten gelernt.
Ich habe irgendwie für mich gelernt, dass der Standpunkt, den ich mitbringe in meiner heutigen Zeit, auch in gewisser Weise meine Frage beeinflusst, die ich an den Text habe,
und das hat mich auch in gewisser Weise so ein bisschen auf die Achtungsschiene geschoben, wenn es um die Frage geht: Wer hat die Wahrheit?

[57:10] Wer hat die Wahrheit über Kant? In dem Fall natürlich ein gewisses methodisches Misstrauen, ein gewisser methodischer Zweifel, der letzten Endes ein bisschen auf die Frage hinausläuft:
Warum kann man das denn in Anspruch nehmen diese Wahrheit? Wie funktioniert das
über Wahrheit zu reden? Das finde ich total interessant und das hat mich diese Arbeit gelehrt in gewisser Weise, ja,
dass die Debatte um Wahrheit wirklich eine interessante Sache ist, wie die sich gegenseitig die Wahrheit streitig machen. Und das beeinflusst auch mein Denken als Historiker.
Wie kann man sozusagen bestimmten Wahrheitsansprüchen auf die Spur kommen?
Es ist ja nicht so, dass die Autoren, die Philosophinnen, die Philosophen sich hinstellen und sagen: Wahrheit ist, Doppelpunkt, das und das. Unwahrheit ist, Doppelpunkt,
alles andere. Sondern das wird versteckt gemacht.
Vor allem heutzutage, wo der Wahrheitsanspruch eh so ein bisschen anrüchig ist, wird die Wahrheit natürlich nicht mit der großen Geste behauptet, sondern die wird versteckt in Fußnoten oder in bestimmten
Formulierungen oder in bestimmten Nicht-Formulierungen wird das im Text versteckt dieser Wahrheitsanspruch. Das macht es halt schwer, ihn ausfindig zu machen. Aber das macht ihn eben auch so mächtig,
weil man nicht ganz klar benennen kann, wie wird jetzt eigentlich genau artikuliert. Man sieht, dass der da drin konstruiert oder produziert wird.
Man kann es auch nicht genau sehen und es ist eine schwierige Arbeit, den rauszufinden.
Aber es ist auch eine interessante Arbeit den herauszufinden. Weiß nicht, als ich den ersten Text gelesen habe, der sich auf eine kritische Art und Weise mit einem bestimmten Thema beschäftigt, war es für mich wie ein Krimi,

[58:38] ohne die Fiktion dazu natürlich. Aber es war so ein Spuren suchen. Ich glaube, die Spuren suchen, ist auch eine gute Zusammenfassung, wie ich meine Arbeit sehe.

Paula:
[58:48] Das ist irgendwie verrückt. Also von Kant und der Frage: Wie wird er gelesen? und so weiter und so fort,
kommt man einfach zur Wahrheit, fast absurd so diese Einflechtung von Wahrheitsbeeinflussung.
Ja das böse Schlagwort ‚fake news‘ und so alles …
Ich hätte jetzt nicht gedacht, dass das quasi so indirekt einen auch irgendwo anscheinend ja beeinflusst und mitträgt.

Hauke:
[59:18] Ich denke, das Sprechen über Wahrheit ist ein wichtiges Segment im Diskurs einfach,
im philosophischen Diskurs, auch in politischen Diskursen. Man spricht viel über Wahrheit einfach. Und das tut man nicht aus dem Grund, weil man es jetzt gerade mal cool findet, die Wahrheit zu sagen, sondern weil die Wahrheit in bestimmte Debatten einfach eingetragen ist, als eine Art von
Grundthema oder fast sogar Voraussetzung dieser Debatte.
Und ich selber als Historiker unterliege selbstverständlich auch dieser Wahrheitsdebatte. Es ist niemals mein Anspruch gewesen, jetzt die Wahrheit abzuschaffen.
Und es ist auch niemals mein Anspruch gewesen, zu sagen: Ich habe die Wahrheit jetzt nämlich gefunden über die Postulatenlehre, die alle anderen Philosophen nicht erkannt haben, weil sie immer nur Vaihinger gelesen haben. Ich habe ja auch gelesen,
und ich unterliege genau demselben Wahrheitsdiskurs, wie alle anderen Philosophen und Historiker, Historikerinnen und Philosophinnen auch.
Aber ich frage mich: Kann man eben mit diesem Wahrheitsanspruch, dass man die Wahrheit sagen muss, irgendwie über Kant, kann man da andere Fragen stellen?
Kann man da versuchen, Kant anders zu historisieren, als es bisher geschehen wurde?

Paula:
[1:00:17] Also ich glaube, langsam sackt es. Nur irgendwie so richtig … habe ich mir jetzt die Frage gestellt:
Was ist denn dann Wahrheit? Ist Wahrheit ein Fakt? Wenn du meinst, man muss die Wahrheit über Kant sagen … Gibt es eine Wahrheit über Kant?

Hauke:
[1:00:34] Ja, in dem Moment, wo Sie gesagt wird, auf jeden Fall.

Paula:
[1:00:39] Wenn ich meine, es ist wahr, dann ist es die Wahrheit, die ich sage, oder?

Hauke:
[1:00:43] Die Wahrheit hängt nicht nur mit dem Sagen zusammen, man kann nicht einfach die Wahrheit sagen und sagen: „Ich, Hauke Heidenreich, sage jetzt euch die Wahrheit über Kant und zwar, dass die Postulate das und das sind.“
Vaihinger war Wissenschaftler, anerkannter Kant-Forscher, er hat diese zwei Kommentare veröffentlicht und ist auch wegen dieser Kommentare nach Halle berufen worden übrigens. Er war Herausgeber der Kant-Studien und Gründer der Kant-Gesellschaft.
Das sind verschiedene Diskurse in denen Vaihinger einfach Macht besitzt und die Macht die Wahrheit sprechen zu dürfen.
Die Wahrheit hängt mit der wissenschaftlichen Macht zusammen, diese Wahrheit sprechen zu dürfen über Kant. Das heißt, die Wahrheit wird gesagt. Die Wahrheit wird durch Macht abgesichert. Die Wahrheit wird eingegrenzt.

[1:01:28] Auf der anderen Seite aber hinterlässt diese Macht und dieses eingrenzen der Spuren, indem man nämlich sagt, was nicht die Wahrheit ist, indem man sagt, was nur ein bisschen die Wahrheit ist.
Das ist ja überhaupt eine sehr beliebte Strategie: Ja, der Autor hat auch Recht, aber er hat nämlich Folgendes vergessen …
Er hat nämlich bestimmte Sachen nicht ganz erkannt. Und das heißt, dass die Wahrheit immer entsteht, wenn an einem Diskurs eine bestimmte Macht behauptet wird, diese Wahrheit aussprechen zu können.

Die Macht, die Wahrheit kann nicht beliebig gesprochen werden. Das geht nicht.
Sonst könnten wir jetzt hier, wenn wir das Mikro ausmachen, uns zusammensetzen in einem geheimen Zirkel, und herausfinden, was Kant eigentlich wirklich in Wahrheit gesagt hat.
Aber das geht so nicht, weil wir eben auch wenn das Mikro ausgeht damit zu tun haben, was zu Kant gesagt wurde und wie diese Wahrheit im Diskurs durch Macht abgesichert wurde.Paula:
[1:02:16] Okay, spannend. Also Wahrheit ist auch irgendwie die Wahrheit, die am meisten gewichtet ist.Hauke:
[1:02:21] Und das Interessante ist ja, wenn man das jetzt betrachten würde, den Diskurs würde es nicht geben,
diese Welt würde nicht geben, würde ja keiner mich zwingen können, diese Wahrheit anzuerkennen und zu sagen: Ja, genau. Das ist es.
De facto kann das natürlich passieren, natürlich kann man gezwungen werden, eine Wahrheit anzunehmen. Das kann auf vielfältige Art und Weise passieren.
Aber wenn einem nahegelegt wird auf eine bestimmte Art und Weise Kant zu lesen, zeigt dieses Nahelegen auch gleichzeitig, wie man Kant eben nicht lesen soll.
Und mich interessiert dann einfach dieses ’nicht lesen Sollen‘.
Ich frage mich dann einfach, aber was ist da mit diesem ’nicht lesen Sollen‘.
Das finde ich dann spannend. Gerade die Machtposition, die Kant in Anspruch nahm, zeigt eben auch, was es für Möglichkeiten geben kann, Kant anders zu lesen.
Wenn man andere Fragen stellt und nach genau diesen Ausschlüssen auch fragt.Paula:
[1:03:11] Cool, ja. Also ist man auf der Suche nach Möglichkeiten, dass man einfach immer weiter schaut, sich immer weiter umguckt und versucht, die Scheuklappen nicht ganz so weit ins Sichtfeld zu rücken.

Hauke:
[1:03:13] *Möglichkeiten

[1:03:22] Genau, aber sagen wir mal, die Scheuklappen immer mal ein bisschen umzusetzen. Also auch verschiedene Sachen
zu thematisieren. Es war wirklich für mich eine sehr spannende Debatte mit den Studierenden über Kant und ich bin jedes mal mit
großen Erkenntnissen aus diesen Seminaren raus gegangen, weil ich mir immer dachte: „Das stimmt ja, genau. Da habe ich noch gar nicht dran gedacht, da müsste man auch mal in die Richtung gehen und so.“
Und das finde ich halt spannend, dass man gucken kann, was man mit diesem Kant eigentlich machen oder nicht machen kann. Das macht schon irgendwie Spaß.

Paula:
[1:03:51] Du hast jetzt Spaß an Kant gefunden und Begeisterung. Wirst du jetzt auch zu dem jährlichen Dinner an seinem Geburtstag erscheinen? Oder machst du jetzt selber hier immer einen Hallesches Dinner zu Ehren von Kant?

Hauke:
[1:04:05] Genau, das ist jetzt sozusagen der Effekt meiner Arbeit. Es wird jetzt demnächst ein Dinner geben in Halle und jährlich und so weiter.

Paula:
[1:04:13] Um den Mythos weiterleben zu lassen.

Hauke:
[1:04:14] Um den Mythos weiterleben zu lassen, genau. Wie ich das jetzt weiter mit Kant mache, weiß ich noch nicht.
Also jetzt nach der Dissertation kommt die sogenannte ‚Postdoc Phase‘. Man ist ja nicht Doktor, sondern man ist entweder Doktorand, dann hat man den Doktor noch nicht oder man ist Postdoc, dann hat man den Doktor schon und man hat nie
die Stelle, wo man mal Doktor ist. Und wie das Thema jetzt eine Rolle spielen wird, weiß ich noch nicht.
Ich hätte eigentlich Bock etwas ganz Neues zu machen und mich mit bestimmten anderen Debatten auseinanderzusetzen.
Naja, ich habe ja gesagt, dass man von diesen Kant nicht so ganz loskommt und mal sehen, wo das halt noch auftaucht.

Paula:
[1:04:45] Also der Mythos ist absolut berechtigt irgendwo, einfach weil im Diskurs so super viel passiert ist, dass es bis heute noch ein wirklich wichtiges Thema ist.

Hauke:
[1:04:50] Ja, irgendwie schon.

Paula:
[1:04:57] Bist du zufrieden mit dem, was du uns erklären konntest, oder fehlt noch irgendwas Wichtiges, was man braucht?

Hauke:
[1:05:04] Es fehlt etwas Wichtiges. Ich weiß gar nicht, ob es noch etwas Wichtiges ist.
Ich hoffe, dass ich nicht zu sehr über Kant geredet habe, dass jetzt alle mit einer Meinung rausgehen: Aha, so ist also Kant.
Ich mag das immer nicht so gern, mich so festzulegen auf eine bestimmte Art von Kant-Sicht.
Was mir viel Spaß gemacht hat, war es sich mit, wie gesagt, mit dem Nichtwissen zu beschäftigen und mich interessiert die Frage: Wie haben Leute ihre Gegenwart gedacht? Wie haben die ihre Gegenwart philosophiert, reflektiert?
Wie hat Kant das in dem Fall gemacht? Und kann uns dieses Reflektieren, dieses Philosophieren,
selbst wenn es gescheitert ist, irgendetwas sagen, dafür, wie wir uns jetzt unsere Gegenwart reflektieren.
Und ich glaube halt irgendwie, dass man sich nicht abschrecken lassen sollte von alten Texten, oder Texten, die jetzt nicht gleich das sagen, was man irgendwie für wichtig befindet oder so, sondern dass man gerade sich abschrecken lassen sollte, auch das Fremde irgendwie wahrnehmen sollte und gucken könnte,
kann der Text trotzdem etwas sagen. Dadurch kriegt man einen tieferen Blick für Texte und auch in gewisser Weise, nennen wir es mal eine Methode, mit bestimmten Wahrheitsansprüchen umzugehen.

Paula:
[1:06:06] Also ist deine Take-Home-Message an die ganzen Zuhörerinnen und Zuhörer:
Mehr Kritik, offener Blick. Was willst du mitgeben?

Hauke:
[1:06:18] Ja, sich mit Sachen kritisch auseinandersetzen, ist, glaube ich, ganz wichtig. Und Kritik muss nicht Klugscheißerei ausarten oder so.

Take Home Message

[1:06:25] Kritik kann Spaß machen. Es kann Wege aufzeigen. Es kann einem zeigen, wo man hingehen kann.
Also ich habe auch Lust gehabt, Kritik zu üben einfach und auch konstruktive Kritik, die sich selber verortet, die selber sagt: Okay, das ist jetzt wichtig oder unwichtig.
Und warum ist das eigentlich so? Es kann Spaß machen, Kritik zu üben. Es kann Spaß machen, dazu Texte zu lesen, die auf den ersten Blick echt schräg sind.

Paula:
[1:06:49] Das glaube ich gerne. Das ist doch ein schönes Schlusswort. Kritik kann Spaß machen.
Also alle Zuhörerinnen und Zuhörer, ihr seid natürlich auch immer sehr gerne zu Kritik an dem Podcast aufgerufen.
Um das jetzt hier noch einmal zu sagen, denn das kann Spaß machen und uns macht es natürlich auch Spaß, sowas zu hören und zu lesen.
Es ist ja genau sowas, man kann selber Kritik üben, kritisch an etwas herangehen, Kritik annehmen, Kritik bekommen, Kritik nicht annehmen, das ist ja ein total vielfältiges Thema.
Ja, ein wunderbares Schlusswort.
Vielen Dank Hauke, dass du heute hier deine Zeit mit uns verbracht hast und uns versucht hast, oder mir versucht hast, mit viel Geduld die ganzen Zusammenhänge zu erläutern.
Danke auch fürs‘ Zuhören an alle da draußen und ich sag jetzt mal Tschüs. Mal schauen, ob die nächste Folge der Fabian oder ich sein wird. Ihr werdet es hören. Danke Hauke.
Und bis zum nächsten Mal. Tschau.

Outro

Hauke:
[1:08:21] Ich merke, ich habe jetzt vor kurzem mich unterhalten und habe selber gemerkt, welche blinden Flecke ich selber durch meine Kant-Beschäftigung gewonnen habe.
Also ich habe mich mit einem sehr deutschsprachigen Thema beschäftigt, mit einem Thema, das in Deutschland spielt im weitesten Sinne, also hier irgendwie spielt. Das damalige Deutschland war natürlich etwas anderes.
Aber ich habe selber gemerkt, was für Grenzen ich mir auch selber gezogen habe, welche blinden Flecken ich habe, welche Debatten ich nicht wahrnehme.
Und das ist, glaube ich, eine Sache, die schwer selbst zu kritisieren ist, selber wiederum die Scheuklappen abzunehmen und zu sagen: Es gibt Themen, die einfach auch eine andere Art von Kritik fordern, als das, was ich gerade hier mit Kant gemacht habe.
Nicht eine andere Haltung von Kritik, sondern eine andere Vorgehensweise, wie man diese Haltung dann konkret anwendet.

Paula:
[1:09:12] Ja cool, dass du dann da selber quasi so mit dem Thema wachsen konntest irgendwie. Also ich meine, wie krass ist es denn, zu merken, okay, das ist jetzt wirklich ein blinder Fleck gewesen?

Hauke:
[1:09:23] Ja, ich glaube, das ist schwer, zu wissen, wenn man sich mit einem Thema beschäftigt, wo die blinden Flecken liegen.
Was wichtig ist, wenn man Kritik übt, dass man das halt nicht allein macht,
dass man seine Art des Kritisierens abgleicht mit bestimmten anderen, dass man auch Mitsprache zulässt an seiner eigenen Kritik.
Und das ist eine Sache, die mir als Historiker und auch als als kritisch denken wollender Mensch schwer fällt,
weil es schwer fällt letzten Endes zu akzeptieren, dass es auch
andere Arten der Kritik gibt, und dass auch die gute Effekte haben können.